Erkenntnisse einer russischen Oppositionellen

Der „Marsch der Millionen“ Anfang Mai war Tage zuvor schon in den Medien des Landes kleingeredet worden, dennoch kamen Zehntausende. Unter ihnen auch Olga Kuratschowa. Die 24-Jährige ist „Revolutionärin der ersten Stunde“, seit Dezember ist sie bei allen Protestaktionen dabei.  In diesen Monaten hat sie viel gelernt: Über ihr Land und die Leute, die darin leben. Und warum es wichtig ist, ein Protokoll zu schreiben, wenn man verhaftet wurde.

  1. Ich habe gelernt mich warm anzuziehen. Ich weiß, dass sogar minus 20 Grad nichts Schlimmes sind. Du kannst drei Pullis anziehen und frierst nicht.
  2. Ich habe gelernt das Selbstbewusstsein zu haben, mich für mein Recht einzusetzen. Als ich das erste Mal verhaftet wurde, am 6. Dezember, wusste ich nicht, dass man ein Protokoll schreiben muss, was man unterschreiben sollte und was nicht. Und als die Polizei fragte, „Wollt ihr schneller von hier weg?“, haben wir alle ja gesagt. Weil es das erste Mal war, dass wir verhaftet worden sind. Wir wussten einfach nicht, dass es unbedingt nötig ist, ein Protokoll zu schreiben. Sie haben es uns dann erklärt. Beim zweiten Mal wussten wir schon, dass das wichtig ist, um es vor Gericht zu verwenden.
  3. Ich habe gelernt, wie ein Gericht funktioniert. Früher konnte ich es nur vermuten, aber wenn du hingehst und mit deinen eigenen Augen siehst, was passiert, und hörst, was die Leute sagen, dann verstehst du, dass das ein Theater Absurda ist. Das ist nicht nur bei mir so gewesen, ich war bei vielen Gerichtsverhandlungen. Mein Verteidiger hatte überzeugende, adäquate Beweise, aber danach kam die Polizei und brachte ihre Beweise vor und das Gericht entschied, dass meine Argumente nicht logisch sind.
  4. Das Wichtigste was ich gelernt habe, ist dass es in Russland mindestens 100.000 hervorragende Leute gibt. Ich dachte früher, es wären viel weniger. Ich weiß jetzt, dass es sogar mehr als 100.000 sind.
  5. Ich habe gelernt, dass die Welt um mich herum so werden kann, wie ich sie mir immer erträumt habe. Als ich zur Schule ging, galten dort so bestimmte merkwürdige Regeln. Zum Beispiel, dass die stärkeren Kinder die schwächeren Kinder unterdrücken. Ich habe schon als kleines Mädchen davon geträumt, dass all die guten Leute zusammen in einer Stadt leben und gute Dinge tun. Klar ist das nicht realistisch. Jetzt weiß ich aber, dass ich in einer guten Welt lebe, in einer Welt der guten Menschen. Es gibt noch andere Menschen, solche Menschen (nickt mit dem Kopf in Richtung Kreml), aber meine Welt ist gut und keine Verhaftung kann mir das kaputt machen.
  6. Ich habe gelernt, dass kein Gesetz, kein Typ an der Macht und keine Polizei das innerste Gefühl der Freiheit einschränken kann. Es ist in uns drin.
  7. Ich habe gelernt, dass man nichts fürchten muss. Vor ein paar Jahren hab ich mich noch nicht einmal getraut, im Livejournal einen regierungskritischen Post zu schreiben. Ich habe Angst gehabt, dass das jemand liest und später gegen mich verwendet. Jetzt bin ich sehr offen, ich sage allen was ich denke. Was mich beunruhigt, was mir wichtig ist. Wenn ich höre, dass die Möglichkeit besteht, dass der FSB oder Mitarbeiter des Zentrums gegen Extremismus uns abhören oder verfolgen, dann denke ich, wozu verstecken? Verfolgt mich ruhig. Angst habe ich keine. Wenn ich in der Metro bin und Flugblätter verteile, fragen die anderen Passagiere mich, ob ich keine Angst habe. Dann antworte ich, wovor soll ich Angst haben? Ich sage nur die Wahrheit.
  8. Ich habe gelernt, dass die Homophobie in Russland wahrscheinlich geringer ausgeprägt ist, als ich immer angenommen habe. Als in St. Petersburg dieses unsinnige Gesetz gemacht wurde, hat die Gesellschaft protestiert. Auch die, die keine Beziehung zu homosexuellen, bisexuellen oder transsexuellen Themen haben. Einfach Leute, die gegen solche faschistoiden Gesetze sind. Ich habe immer gedacht, dass es keinen Sinn macht, solche Initiativen zu starten, ich dachte die Gesellschaft wäre noch nicht bereit dafür. Aber ich weiß nun, dass sie sehr wohl so weit ist, dass es dort Freunde gibt, die uns helfen. Ich treffe Leute, die uns unterstützen und dieses Zeichen tragen (deutet auf ihren Button mit einem pinken Dreieck auf schwarzem Hintergrund). Das ist toll und gibt mir Hoffnung.
  9. Ich habe gelernt, dass man in Russland leben kann. Bis zum 4. Dezember dachte ich, dass wir wahrscheinlich woanders hingehen müssten um dort unsere Kinder aufzuziehen. Weil es in Russland so fürchterlich ist. Jetzt weiß ich dass es nicht so schlimm ist und wir bald anfangen können Kinder in Russland aufzuziehen (lacht). Sehr viele junge aufgeschlossene Leute wollten früher woanders hin, irgendwohin, wo man etwas erreichen kann. Die Leute sahen für sich nicht die Möglichkeit, in Russland so zu leben wie sie möchten. Zu wissen, dass ich in dieser wunderschönen Stadt so leben kann wie ich möchte ist ein sehr gutes Gefühl. Ehrlich gesagt dachte ich noch im Sommer, dass ich in ein paar Jahren von hier weggehen muss und ich war sehr traurig. Denn ich liebe Moskau, ich liebe die Menschen die hier leben, ich wollte nicht weg. Seit dem 4. Dezember weiß ich, dass ich hier bleiben kann und dass alles gut wird. Auch wenn es von staatlicher Seite noch keine sozialen Absicherungen und keinen Schutz gibt, gibt es Leute, die nicht aufhören, sich gegenseitig zu helfen. Das ist sehr wichtig.
  10. Ich habe gelernt, für mein Recht zu kämpfen und für das meiner Freunde und Bekannten. Wenn du früher dieses Gefühl der Ungerechtigkeit und Hoffnungslosigkeit hattest, war gleichzeitig der Gedanke da, dass es keinen Sinn macht, dagegen anzugehen. Bei uns gab es nur sehr wenige, die den Mut dazu hatten. Jetzt weiß ich, dass es viele von uns gibt. Du musst nur das machen, was dir wichtig erscheint. Die Ideen unterstützen, die dir nah sind, einfach das machen, was dir gefällt. Die Gesellschaft ist bereit, viel zu tun, damit wir stärker werden und dass unser Leben so wird, wie wir es wollen.
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3 Antworten zu Erkenntnisse einer russischen Oppositionellen

  1. Renate Kuhn schreibt:

    Wie hoffnungsvoll – wunderbar – so etwas trägt!
    Hoffentlich sehr ansteckend!
    Herzlichen Gruß aus Bremen, bis bald in Moskau!
    Renate K.

  2. Sigi Aldenhoff schreibt:

    Absoluter Wachrüttler und Mutmacher! Wieviel leichter haben wir es doch, und wie oft halten wir den Mund und ballen nur die Faust in der Tasche..
    Liebe Grüße, Papa

  3. Christian schreibt:

    Sehr, sehr schön und inspirierend!!!

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